Veranstaltung: | 55. Landesversammlung |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 19 Weitere Anträge (V-Anträge) |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | LAG Geschlechterpolitik |
Beschlossen am: | 15.05.2022 |
Eingereicht: | 22.04.2022, 17:29 |
Update für Akzeptanz und Selbstbestimmung in Förderpolitik und Lehrplänen: Sachsens Schüler*innen den Zugang zu Aufklärungsangeboten über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt dauerhaft und flächendeckend ermöglichen!
Beschlusstext
Die Akzeptanz von Menschen, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen oder
sich nicht dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig zu fühlen,
ist dank des vielfältigen Engagements zivilgesellschaftlicher Organisationen und
jedes einzelnen Coming Outs in Deutschland kontinuierlich gestiegen. Dennoch
gibt es weiterhin regional erhebliche Unterschiede bei der Akzeptanz von
Anderessein, viele erleben immernoch Diskriminierung und Ausgrenzung, bis hin zu
Hass.
Jugendliche stehen gleichzeitig vor mehreren Herausforderungen, einerseits dem
Bewusstwerden der eigenen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität
und andererseits, dem Umgang ihrer Mitmenschen mit diesen Themen. Erfahrungen
von Ausgrenzung in der Schule, und damit an einem zentralen Lebensbereich von
Jugendlichen, können prägend sein.
Wir sind der Überzeugung, dass es zu unseren staatlichen Aufgaben gehört,
Schulen zu sicheren Orten für alle Schüler*innen zu entwickeln, indem wir
Antidiskriminierung vermitteln, die Inklusion untereinander fördern und queere
Jugendliche durch Angebote des Empowerments in ihrer eigenen Identität stärken.
Die Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt bzw. queere
Bildungsarbeit ist dafür unerlässlich.
Wir BÜNDNISGRÜNE setzen uns zum Ziel, flächendeckend jede Oberschule und jedes
Gymnasium in Sachsen jedes Jahr mit queeren Bildungsangeboten zu erreichen.
Dafür fordern wir:
1.)Bekenntnis zur Regelförderung für Aufklärung über sexuelle und
geschlechtliche Vielfalt
Die queere Bildungsarbeit wird in Sachsen seit mehr als 15 Jahren von 3 Vereinen
in Dresden, Leipzig und Chemnitz mit ihren vielen ehrenamtlichen
Mitarbeiter*innen getragen. Deren Arbeit wurde bisher durch wechselnde
Projektförderungen staatlich unterstützt. Wir BÜNDNISGRÜNE sind der Überzeugung,
eine gesicherte, institutionelle Finazierung der Kinder- und Jugendarbeit muss
unabhänging von überzeichneten Fördertöpfen erreicht werden. Wir wollen ein
flächendeckendes queeres Bildungsangebot in den kreisfreien Städten Dresden,
Leipzig und Chemnitz sowie in den ländlichen Räumen sicherstellen und den
Fortschritt durch ein regelmäßiges Monitoring überprüfen. Die Finanzierung
wollen wir systematisch als eigenständige Regelföderung über den Haushalt des
Freistaats Sachsen etablieren, denn dauerhafte Aufgaben brauchen eine dauerhafte
Förderung.
2.) Unerledigte Aufgaben erfordern Mittelzuwachs um 60%
Der vom Freistaat Sachsen im Rahmen der Pandemiebekämpfung verordnete Ausfall
von Präsenzunterricht an den Schulen hat gleichzeitig zu einem massiven
Mehrbedarf an Aufklärung geführt, weil nun mehrere Jahrgänge seit dem Frühjahr
2020 kaum Zugang zu queeren Bildungsprojekten hatten. Dieser Nachholeffekt
zeichnet sich bereits in Form von deutlich mehr Anfragen für individuelle
Beratung ab und muss systematisch angegangen werden, z.B. durch zusätzliche
Jugendarbeit sowie mehr Personal dafür. Darüber hinaus gibt es in Ostsachsen und
im Umland von Dresden auch im Jahr 2022 keine Projekte an Schulen zur Aufklärung
über geschlechltiche und sexuelle Vielfalt. Der überdurchschnittlich hohen
Inflation seit 2021 begegnen wir mit einem entsprechenden Mittelzuwachs um die
Wirksamkeit der Projekte sicherzustellen. Alle zusätzlichen Bedarfe
zusammengenommen ergeben einen Finanzbedarf von mindestens 60% über dem bisher
bewilligten Fördervolumen.
3.) Verbindliche Behandlung der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt in
sächsischen Lehrplänen
Wir fordern die Verankerung queerer Inhalte in den Lehrplänen aller Schularten
Sachsens in einem fächerübergreifenden Ansatz und mit Kompetenzstandards, die
allen Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften bekannt sind. An allen
weiterführenden sächsischen Schulen sollen Ansprechpersonen für geschlechtliche
und sexuelle Vielfalt benannt werden. Diese setzen sich als qualifizierte
Multiplikator*innen im Bereich LSBTIQ* ein, übernehmen die Organisation von
Schüler*innengruppen und informieren über Fortbildungsangebote. Dafür erhalten
sie mindestens eine Abminderungsstunde und Zugang zu Fort- und Weiterbildungen,
ggf. auch in anderen Bundesländern. In der Lehrkräfteausbildung und der
Ausbildung von pädagogischem Fachpersonal wollen wir die Themen geschlechtliche
und sexuelle Vielfalt sowie Antidiskriminierung als verpflichtende Inhalte
verankern. Ebensolche Angebote sollen Teil von qualitätsgesicherten Fort- und
Weiterbildungsmaßnahmen sein.
4.) Ostsachsen braucht ein eigenes, flächendeckendes queeres Bildungsangebot
Die strukturelle Unterversorgung des ländlichen Raumes in Ostsachsen wollen wir
durch zusätzliche Förderung angehen, damit die wenigen vorhandenen queeren
Initiativen in die Bildungsarbeit eingebunden und untereinander vernetzt werden
können. Dies braucht Personal zur Koordinierung und einen Anlaufpunkt vor Ort.
Dabei sind sowohl aufsuchende Angebote, wie auch die Erreichbarkeit durchgute
ÖPNV-Anbindungwichtig, was durch die bestehenden Strukturen aus Dresden heraus
nicht ausreichend gewährleistet werden kann. Die Charakteristik des ländlichen
Raumes durch weite Strecken, Landflucht, Strukturschwäche und vorherrschende
konservative Weltbilder erfordern ein maßgeschneidertes Angebot an
niedrigschwelligen, digitalen Netzwerken und Nachsorge-Kanälen im Anschluss an
die Bildungsprojekte an den Schulen. Jedoch ist in einem bereits gefassten
Vertrauensverhältnis das persönliche Gespräch nicht zu ersetzen, weshalb eine
Ansprechbarkeit in der Region für Schüler*innen tatsächlich gewährleistet werden
muss.
Begründung
Der Schutz vor Diskriminierung und die Förderung von Akzeptanz ist ein gesamtstaatlicher Auftrag mit Verfassungsrang gem. Art. 3 Abs. III GG. Auch der Landesaktionsplan Vielfalt fordert in Sachsen "langfristige Bildungsprojekte zum Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt für Schülerinnen und Schüler, Lehrende sowie Eltern im gesamten Freistaat Sachsen". - Ein Anspruch, dem die Realität an den Schulen immer weniger gerecht wird, obwohl auch der Koalitionsvertrag vorsieht, dass Sachsens Schüler*innen das individuelle Erreichen bester Bildungserfolge ermöglicht wird und allen Menschen umfassende Chancen für ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Leben in sozialer Gemeinschaft eröffnet werden soll. Die derzeitige Projektförderung steht im Widerspruch zu einem sich langfristig abzeichnenden Bedarf, der mit jedem Jahrgang, der eingeschult wird, 7 - 10 Jahre später absehbar ist und Eingang in die mittelfristige Finanzplanung finden sollte. Darüber hinaus liegt der Anteil von queeren Jugendlichen mit eigenen Diskriminierungs-Erfahrungen im Zusammenhang mit LSBTIQ* an Schulen oder Arbeitsorten bei 44% laut einer Studie des Deutschen Jugend Institutes, was den Handlungsdruck deutlich aufzeigt. Nicht zuletzt wird der Abschied von andauernd welchselnden Konzepten für die Projektförderung personelle Ressourcen für die hauptamtliche Arbeit freistellen und Best-Practice-Ansätze innerhalb und zwischen den Bildungsprojekten fördern.
Seit dem Frühjahr 2020 wurden ca. 75% weniger Schüler*innen von queeren Bildungsprojekten erreicht, soziale Konflikte und psychische Belastungen haben im Homeschooling nachweisbar zugenommen, daraus ergibt sich ein gesteigerter Beratungsbedarf auch für höhere Klassen bzw. indivduelle Angebote. Die Anfragen für individuelle Beratung von queeren Jugendlichen haben sich allein in Ostsachsen während der Pandemie fast verdreifacht. Mit der Streichung der Förderung für Aufklärungsprojekte an Schulen durch das sächsische Sozialministerium ab 2022 für Dresden, das Umland und ganz Ostsachsen konnten dort bisher keine Bildungsprojekte mehr durchgeführt werden. Pandemiefolgen und Ukraine-Krieg sorgen seit 2021 für stark steigende Preise, was sich insbesondere auf Befördungskosten niederschlägt und das Budget der Vereine trotz ehrenamtlicher Arbeit zusätzlich belastet. Ein Ausgleich durch weniger Projekte ist nicht hinnehmbar und widerspräche dem Ziel der Förderung. Ausgehend von einem bewilligten Fördervolumen in 2020 von ca. 250.000 € für alle 3 Vereine, ergibt sich ein zursätzlicher Mehrbedarf von mindestens 150.000 €, was 60% entspricht.
Schüler*innen von Schulen, an denen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Schulprogramm und im Unterricht auftauchen, sowie Lehrkräfte, welche eine klare, akzeptierende Haltung einnehmen, sind laut Klocke-Studie weniger von Diskriminierung betroffen. Aktuelle Daten aus Sachsen gibt es dazu nicht. Zwar steht im Orientierungsrahmen für die Familien- und Sexualerziehung an sächsischen Schulen der Satz „Der Begriff „Familie“ meint heute nicht mehr nur die Wohn- oder Lebensgemeinschaft von verschieden geschlechtlichen Eltern und ihren leiblichen (oder evtl. angenommenen) Kindern, sondern meint jede Lebensgemeinschaft von einem oder mehreren Erwachsenen mit einem Kind oder mit mehreren Kindern, für die gesorgt wird.“ Jedoch spiegeln sich diese anerkennten Realitäten nicht in den verpflichtenden Inhalten in den sächsischen Lehrplänen wider. Aus diesem Grund ist eine verbindlichere Verankerung notwendig und besonders die Qualifizierung von Lehrkräften und pädagogischen Fachpersonal nötig. Entsprechene Module sind in der Ausbildung bisher nicht obligatorisch. Solche Fort- und Weiterbildungsangebote müssen den aktuellen Standarts, z.B. des Bundesverbandes Queere Bildung e.V. entsprechen.
Obwohl in den Landkreisen Bautzen und Görlitz ebenso viele Menschen leben wie in Dresden, kommen von dort weniger als 25% der Anfragen für queere Schulprojekte. Statistisch ist von einem gleichmäßigen Anteil queerer Jugendlicher unabhängig vom Wohnort auszugehen, sodass sich eine systematische Unterversorgung in Ostsachsen abzeichnet. Regionen, in denen die Akzeptanz von Anderssein durch gruppenbezogene Meschenfeindlichkeit und Rechtspopulismus erschwert wird, bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Die Weite des ländlichen Raumes sorgt für eine weitere Vereinsamung von queeren Jugendlichen in einer durch konservative Werte geprägten sozialen Umgebung, was die Gefährdung für Suizide erhöht und ggf. schnell verfügbare Hilfsangebote vor Ort noch nötiger macht. Die vorherrschende Strukturschwäche und der verschleppte Ausbau des ÖPNV führen zu Reisezeiten von über 2 Stunden zwischen Orten wie Weißwasser und der Beratungsstelle in Dresden. Realistisch bestehen keine persönlichen Nachsorge-Angebote anschließend an die Schulprojekte. Digitale Lösungen können hier jedoch eine sinnvolle Ergänzung sein. Zusammenfassend kann der Benachteiligung des ländlichen Raumes nur durch gezielte Förderung der vorahndenen sowie noch zu schaffendenen Beratungsstrukturen und -Netzwerke vor Ort begegnet werden, um gleichwertige Lebensverhältnisse gem. Art. 72 GG zu erreichen.
Glossar/Fußnoten:
- Coming Out: bezeichnet das eigene Erkennen und gegebenenfalls Öffentlichmachen der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität.
- Queer: queer wird von Menschen verwendet wird, die „que(e)r“ zu heteronormativen Strukturen“ leben. Der Begriff bedeutet in der englischen Sprache „sonderbar“, „anders“ oder „seltsam“. Hier fand, ähnlich wie bei den Begriffen lesbisch und schwul, eine positiv besetzte Umdeutung statt. So gilt der Begriff nun als selbstbewusste Eigenbezeichnung.
- LSBTIQ*: steht für lesbisch, schwul, bisexuell und trans*, inter* und/oder Queer/Questioning.
- Landesaktionsplan Vielfalt des Freistaats Sachsen: https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/29799
- Studie "Coming Out - und dann?!" des DJI: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2015/DJI_ComingOut_Broschuere.pdf
- Bundesverband Queere Bildung e.V. https://queere-bildung.de